Wenn der digitale Zwilling die Technische Dokumentation steuert
Was ist der digitale Zwilling?
Der digitale Zwilling eines technischen Produkts ist ein virtuelles Model, das das Produkt mit seinen Komponenten und Funktionen abbildet. Nach Inbetriebnahme des Produkts kann der digitale Zwilling mit Daten aus Sensoren, Simulationen und Algorithmen Analysen des Verhaltens, Vorhersagen und Optimierungen über den gesamten Lebenszyklus des Produkts unterstützen. So können Fehlfunktion frühzeitig erkannt, vorausschauende Wartungsarbeiten geplant und Rückschlüsse auf die Produktentwicklung gezogen werden.
Technische Dokumentation und
Der digitale Zwilling eines Produkts bildet dessen genaue Konfiguration ab. Damit die Technische Dokumentation dazu passt, darf sie nicht mehrere Produktvarianten abdecken, sondern muss produktspezifisch erstellt und ausgeliefert werden. Doch wie entsteht diese produktgerechte Dokumentation und wie müssen die redaktionellen Prozesse dazu aussehen?
Dieser Artikel beschreibt das technische Konzept einer Lösung, mit der sich das Unternehmen Endress+Hauser den Herausforderungen von produktspezifischer Dokumentation für den digitalen Zwilling stellt.
Der Artikel basiert auf dem gemeinsamen Vortrag von Endress+Hauser (Thomas Ziesing) und parson (Ulrike Parson) auf der tekom-Jahrestagung 2024.
Hintergrund und Motivation
Das Projekt ist Teil eines -Pilotprojekts, gefördert durch das iiRDS-Konsortium. Ziel ist es, Technische Dokumentation durch den Einsatz von Produktdaten und iiRDS- zu erstellen, zu verwalten und auszuliefern.
Produktgetriebene Dokumentation bei Endress+Hauser
Endress+Hauser ist ein führendes Unternehmen im Bereich Prozess- und Labormesstechnik sowie Automatisierungslösungen. Das Unternehmen setzt auf eine produktdatengetriebene Dokumentation. Produktdaten aus SAP, PIM und Softwarekonfigurationssystemen werden in einem mit einem Informationsmodell der Technischen Dokumentation verknüpft. Dadurch werden die Inhalte der Technischen Dokumentation genau auf die jeweilige Produktkonfiguration abgestimmt.
parson unterstützt als Dienstleister für smarten Content und intelligente Informationslösungen die Entwicklung der und die Umsetzung der Knowledge-Graph-Lösung.
Als Knowledge-Graph-Plattform wird das Produkt Content Connect von Empolis verwendet.
Herausforderungen und regulatorische Anforderungen
Endress+Hauser steht vor der Herausforderung, hochkonfigurierbare Produkte effizient mit relevanter und kontextbezogener Information zu begleiten. Neue regulatorische Anforderungen wie die VDI 2770 und die Maschinenverordnung sowie veränderte Ausgabeformate – von elektronischen Dokumenten bis hin zu multimedialen Inhalten – erfordern innovative Ansätze in der Informationsbereitstellung.
Neue Bereitstellungsformen für Technische Dokumentation
Anwender:innen erwarten zunehmend, dass relevante Informationen direkt geliefert werden, statt sie mühsam zu suchen. Dies erfordert neue Bereitstellungsformen, etwa durch Apps und KI-gestützte Anwendungen.
Der digitale Zwilling und zugehörige Submodelle für die der Industrial Digital Twin Association (IDTA), insbesondere "Handover Documentation" und "Intelligent Information for Use", ermöglichen eine konfigurationsspezifische Dokumentation. Ziel ist es, die Informationsmenge gezielt auf die jeweilige Produktvariante zuzuschneiden und so eine effizientere Nutzung sicherzustellen.
Ziel des Projekts: Dokumentation passend zur Produktkonfiguration
Die Technische Dokumentation soll passend zur Produktkonfiguration und angereichert mit iiRDS-Metadaten erstellt, verwaltet und ausgeliefert werden. Dies ermöglicht Folgendes:
- Eine konfigurationsspezifische Bereitstellung von Informationen
- Eine Reduzierung von Redundanzen und Fehlerquellen
- Eine verbesserte Benutzerfreundlichkeit für Kund:innen und Support-Teams
Durch eine modulare Strukturierung der Inhalte können wiederverwendbare Informationseinheiten gezielt eingesetzt werden.
So sollen Kund:innen genau die Informationen erhalten, die für ihre spezifische Produktvariante relevant sind.
Technische Umsetzung
Die technische Umsetzung des Projekts bei Endress+Hauser umfasst drei Kernkomponenten:
1) Knowledge-Graph
Der Knowledge-Graph ist die zentrale Komponente, die Datenmodelle und Informationsmodelle sowie Produktdaten speichert.
Die Knowledge-Graph-Plattform dient als semantische Middleware und importiert Produktdaten aus den originalen Datenquellen (sources of truth).
Über Relationen können Produkteigenschaften als dokumentationsrelevant gekennzeichnet werden, sodass das Produktmodell mit dem iiRDS-basierten Informationsmodell verknüpft wird.
So kann der Knowledge-Graph für eine bestimmte Produktkonfiguration den Dokumentationsbedarf feststellen und die passenden Inhalte als strukturierte Informationen (Topics) zusammenstellen.
Diese Zusammenstellung erfolgt, bevor die Technischen Redakteur:innen damit beginnen, die Inhalte im Redaktionssystem zu erstellen oder zu bearbeiten. Sie erhalten vom Knowledge-Graphen ein Dokumentationsprojekt (den so genannten Redaktionsauftrag), das zur Produktkonfiguration passt. Alle Informationseinheiten sind bereits mit den notwendigen Produkt- und Informationsmetadaten ausgestattet.
2) Datenquellen (sources of truth)
Verschiedene Unternehmensquellen speisen den Knowledge-Graph mit Daten, darunter das PIM (Produktinformationsmanagement), das ERP-System (SAP) und die Softwarekonfiguration.
Diese Quellen liefern Produkteigenschaften, Merkmale, Bestellkonfigurationen, Software-Features und Bezeichnungen der Benutzeroberfläche (UI strings).
3) Redaktionssystem
Das -Redaktionssystem (CLS von Empolis) erstellt die Inhalte, speichert Fragmente zur Wiederverwendung, verwaltet die Workflows und steuert das Übersetzungsmanagement.
Der Knowledge-Graph stellt sicher, dass alle Metadaten bereits vorhanden sind, wenn ein Redaktionsauftrag erstellt wird.
Um die Inhalte der Technischen Dokumentation zu bearbeiten, nutzen die Technischen Redakteur:innen den Oxygen Author von Syncrosoft. Innerhalb des Redaktionssystems CLS können die Redakteur:innen zusätzliche Funktionen innerhalb von nutzen, z.B. wiederverwendbare Fragmente über Metadaten suchen.
So wird Technische Dokumentation zusammengestellt: Ablauf
- Wenn die Produktstruktur vorliegt, z.B. in der PIM, kann die Dokumentationsarbeit starten. Neue Produktstrukturen werden regelmäßig in den Knowledge-Graphen importiert und können für Redaktionsaufträge verwendet werden.
- Der Task-Manager stellt den Redaktionsauftrag zusammen. Der Auftrag enthält eine Produktkonfiguration und eine Auswahl aus dem Informationsmodell, z.B. alle Knoten zur Inbetriebnahme des Produkts.
- Der Knowledge-Graph prüft die dokumentationsrelevanten Produkteigenschaften und identifiziert, welche Informationseinheiten (Topics) für die Produktkonfiguration notwendig sind.
- Der Redaktionsauftrag wird an das Redaktionssystem übergeben. Dort bearbeiten Technische Redakteur:innen und Übersetzungsmanager:innen die Aufträge.
- Die Ausgabe in verschiedene Formate wie PDF, iiRDS-Pakete u.a. erfolgt über den Knowledge-Graphen.
So funktioniert die Variantensteuerung
Der Knowledge-Graphen steuert auch die Varianten der Produktdokumentation. Die Variantenauswahl als zentraler Mechanismus verknüpft das Produktmodell mit dem Informationsmodell. Beispiel:
- Ein Produkt mit Hygienezulassung erfordert spezifische Montagehinweise.
- Der/die Informationsarchitekt:in erstellt eine Variantenauswahl „Hygieneanforderungen“ und verknüpft diese mit dem Knoten „Hinweise zur Montage“ im Informationsmodell. In der Variantenauswahl sind die Produkteigenschaften für die Hygienezulassung verknüpft.
- Wenn ein Redaktionsauftrag erstellt wird, der die Hinweise zur Montage enthält und ein Produkt mit Hygienezulassung betrifft, dann wird für diesen Knoten des Informationsmodells ein zusätzliches angelegt, eine Dokumentationsvariante. Wenn es das Topic schon gibt, wird er dem Redaktionsauftrag hinzugefügt.
Dadurch entstehen automatisch variantenspezifische Dokumentationen, ohne dass Redakteur:innen jeden Einzelfall manuell prüfen müssen.
Rolle der Technischen Redakteur:innen
Die Technischen Redakteur:innen arbeiten nicht mehr dokumentorientiert, sondern erhalten die Redaktionsaufträge mit bereits angereicherten Metadaten. Ihre Aufgaben umfassen:
- Bearbeitung von Redaktionsaufträgen: Diese sind bereits mit vollständigen Metadaten versehen. Die Metadaten umfassen Produktfamilie, Produktlebenszyklusphase, Topic-Typ und andere relevante Informationen.
- Erstellung und Bearbeitung von Inhalten: Die Redakteur:innen erstellen Inhalte, speichern Fragmente zur Wiederverwendung und verwenden diese Fragmente wieder. Sie arbeiten mit Variablen und können vorhandene Topics und Fragmente im System finden und nutzen.
- Standardisierung von Inhalten: Sie arbeiten daran, die Inhalte über alle technischen Redaktionen in der Endress+Hauser-Gruppe hinweg zu standardisieren, was eine erhebliche Herausforderung darstellt.
- Zusammenarbeit mit dem Knowledge-Graph: Das Redaktionssystem, verbunden mit dem Knowledge Graph, speichert die vorhandenen Topics und Fragmente und meldet zurück, welche Informationen bereits vorhanden sind. Dies erleichtert die Wiederverwendung und verhindert doppelte Arbeit.
- Übersetzungsmanagement: Das System ist mit dem Übersetzungsmanagementsystem verbunden, sodass die Übersetzungsmanager:innen die Inhalte in verschiedene Sprachen übersetzen lassen können.
- Review-Prozess: Ein webbasierter Review-Prozess für die fachliche Prüfung durch Fachexpert:innen (SME) ermöglicht eine kontinuierliche Prüfung auf Basis einzelner Informationseinheiten (Topics). Der Review erfolgt also nicht erst, wenn die Dokumentation fertig ist.
Rolle der Informationsarchitekt:innen
Informationsarchitekt:innen spielen in diesem Projekt eine zentrale Rolle. Ihre Aufgaben umfassen:
- Verbindung des Produktmodells mit dem Informationsmodell: Sie schaffen die Verbindung zwischen den Produktdaten und dem Informationsmodell. Dies beinhaltet die Auszeichnung der variantengebenden Merkmale in der Produktklassifikation.
- Überprüfung der Attribute: Sie überprüfen teilweise die Attribute im PIM (Produktinformationsmanagementsystem), um sicherzustellen, dass die Daten korrekt und vollständig sind.
- Vereinheitlichung eines Informationsmodells: Sie sind verantwortlich für die Neustrukturierung der Technischen Dokumentation: weg von Dokumenten hin zu Topics. Dies ist notwendig, um die neuen Anforderungen des Projekts zu erfüllen.
Diese Aufgaben sind entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung des Projekts und die Erreichung der gesetzten Ziele.
Herausforderungen
Das Projekt bringt sowohl technische als auch organisatorische Herausforderungen mit sich:
- Beschaffenheit der Quelldaten: Daten aus verschiedenen Systemen mit unterschiedlicher Qualität und Granularität müssen harmonisiert werden.
- Einheitliche Datenmodelle: Metadaten und Klassifikationskonzepte müssen vereinheitlicht oder aufeinander abgestimmt werden.
- Abhängigkeit von Produktdaten: Die Technische Dokumentation kann erst starten, wenn die Produktdaten vorliegen. Das bedeutet, dass auch für neue Produkte, die noch in der Entwicklung sind, Daten in der PIM oder anderen Produktdatensystemen frühzeitig angelegt werden müssen.
- Neue Rollen in der Redaktion: Es entstehen neue Rollen in der Redaktion, z.B. für Informationsarchitektur.
- Umstellung von Dokumenten auf Topics: Inhalte müssen granular aufbereitet werden. Das bedeutet, das bestehende Dokumente komplett neu strukturiert werden müssen.
Zukunftsausblick
Die Lösung, die Endress+Hauser nutzt, bietet großes Potenzial, um die Technische Kommunikation und andere Prozesse im Unternehmen weiter zu automatisieren und digitalisieren.
Automatische Erzeugung von Inhalten
Die Informationen im Knowledge-Graph können für die automatische Erstellung Technischer Dokumente, z.B. von Datenblättern, genutzt werden. Die Integration weiterer Unternehmenssysteme wird die Effizienz weiter steigern.
Einsatz von KI-gestützten Analyse- und Optimierungsverfahren
KI kann dabei helfen, wiederverwendbare Inhalte zu identifizieren und Texte zu optimieren.
Zentrale Datendrehscheibe und erweiterte Vernetzung
Durch eine zentrale Datenplattform können technische Informationen nahtlos mit anderen Unternehmensbereichen vernetzt werden. So könnten Inhalte aus der Technischen Dokumentation z.B. in Service- und Wartungsanwendungen eingebunden werden.
Einsatz von Chatbots und sprachgesteuerten Assistenzsystemen
Die modularisierte Dokumentation könnte als Grundlage für intelligente Assistenzsysteme dienen, die Nutzern schnelle und präzise Antworten auf Fragen zur Produktnutzung liefern.
Nachhaltigkeit und digitale Compliance
Die Digitalisierung technischer Dokumentation reduziert Papierverbrauch und Druckkosten erheblich. Zudem können regulatorische Standards durch eine zentralisierte und nachvollziehbare Informationsverwaltung besser eingehalten werden.
Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass die digitale Transformation der technischen Dokumentation erst am Anfang steht. Die Möglichkeiten, die sich durch Automatisierung und den digitalen Zwilling ergeben, sind enorm.
Fazit
Der digitale Zwilling revolutioniert die Technische Dokumentation, indem er produktkonfigurationsspezifische Inhalte integriert. Trotz Herausforderungen in der Datenintegration und organisatorischen Transformation bietet dieser Ansatz erhebliche Vorteile:
- Effizienzsteigerung durch Automatisierung
- Höhere Modularisierung für bessere Wiederverwendung
- Präzisere, variantenspezifische Dokumentation
- Optimierung des gesamten Informationsflusses im Unternehmen
Das Projekt zeigt, wie sich Unternehmen durch digitale Technologien zukunftssicher aufstellen und technische Kommunikation effizienter gestalten können.
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Kundenreferenzen
- Endress+Hauser: Informationsarchitektur und Beratung für Content-Management und Content-Delivery in der Technischen Kommunikation
- Endress+Hauser: Ausrichtung der technischen Kommunikation auf Content-Delivery
Leistungen
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- Metadatenmodelle für die Technische Dokumentation entwickeln
- Intelligente Informationen mit iiRDS
- Redaktionssystem für die Technische Dokumentation einführen
- Technische Dokumentation mit DITA-XML
- parson ist Reseller von Oxygen-Produkten